Vollständige Induktion: Warum sie mich verwirrt hat
Die Induktionsannahme vergessen? Ich auch. Hier ist, wie ich endlich verstanden habe, warum vollständige Induktion kein Trick ist - sondern saubere Mathematik.
Vollständige Induktion: Warum sie mich verwirrt hat
Und warum sie trotzdem genial ist
1. Das intuitive Problem
Vollständige Induktion wirkt anfangs faul:
- Man zeigt die Aussage für .
- Dann zeigt man: Aus folgt .
- Und daraus soll plötzlich folgen, dass für alle gilt?
Das fühlt sich wie ein Trick an. Ist es aber nicht. Es ist eine saubere Ausnutzung der Struktur der natürlichen Zahlen.
2. Die Domino-Analogie (diesmal korrekt gedacht)
Stell dir eine unendliche Reihe Dominosteine vor:
Die vollständige Induktion besteht aus genau zwei Bausteinen:
- Induktionsbasis: ist wahr. → Der erste Stein fällt.
- Induktionsschritt: Für alle gilt: . → Wenn ein Stein fällt, fällt der nächste.
Wenn beides stimmt, ist klar:
- Stein 1 fällt ⇒ Stein 2 fällt
- Stein 2 fällt ⇒ Stein 3 fällt
- usw. ohne Lücke
Die Kettenreaktion ist der Beweis. Nicht „wir haben unendlich viele Fälle angeguckt", sondern: Wir haben gezeigt, dass keine Zahl entkommen kann, sobald es für die erste gilt.
3. Mein Fehler beim klassischen Beispiel
Die Aufgabe
Zeige mit vollständiger Induktion:
Mein falscher Ansatz
- Basisfall : korrekt.
- Dann dachte ich: „Jetzt prüfe ich .“
Also:
- Links:
- Rechts:
Beides stimmt. Und ich dachte ernsthaft: „Nice, fertig.“
Warum das Quatsch ist
Ich hatte effektiv nur das hier gemacht:
P(1): wahr P(2): wahr P(3), P(4), P(5), ... : keine Aussage
Zwei Punkte auf einer unendlichen Geraden sagen nichts über den Rest. Vollständige Induktion will nicht „Basis + nächster konkreter Fall", sondern:
Wenn es für ein beliebiges gilt, dann muss es für gelten.
Das „beliebig, aber fest gewählt" ist der Kern. Ohne diese Verallgemeinerung ist es kein Induktionsbeweis. (Mehr zu Beweistechniken findest du in unserer Mengenlehre-Lektion.)
4. Der korrekte Induktionsschritt
Induktionsannahme (I.A.)
Sei beliebig aber fest. Angenommen, es gilt:
Zu zeigen (I.S.)
Wenn wir in der ursprünglichen Formel überall durch ersetzen, müsste gelten:
Das ist unser Ziel. Wir müssen zeigen, dass die linke Seite wirklich gleich der rechten Seite ist.
Beweis des Schritts
Die zentrale Idee: Wir zerlegen die Summe so, dass wir die Induktionsannahme verwenden können.
Was bedeutet ausgeschrieben?
Das können wir aufteilen in:
Die Summe bis kennen wir schon aus der Induktionsannahme! Also:
Schritt 1: Summe aufteilen
Schritt 2: Induktionsannahme einsetzen
Wir wissen aus der I.A., dass . Also:
Schritt 3: auf gemeinsamen Nenner bringen
ist dasselbe wie :
Schritt 4: Beide Brüche addieren
Schritt 5: ausklammern
Sowohl im ersten als auch im zweiten Term kommt vor:
Das war's! Wir haben genau die Form erreicht, die wir zeigen wollten.
Was haben wir gemacht?
- Wir haben die Summe bis geschickt aufgeteilt
- Für den Teil bis haben wir die Induktionsannahme benutzt (das ist der Trick!)
- Dann nur noch Algebra: Brüche addieren und ausklammern
Wichtig: Ohne die Induktionsannahme könnten wir nichts beweisen. Sie ist das Werkzeug, das den ganzen Beweis erst möglich macht.
Damit ist gezeigt: Aus der Gültigkeit für folgt die Gültigkeit für . Zusammen mit der Basis folgt: Die Formel gilt für alle .
Wichtig: Wir rechnen nicht einfach stumpf aus, sondern beweisen eine allgemeine Implikation.
Video-Empfehlung: Wo es bei mir klick gemacht hat
Ich habe diese Aufgabe 3 Mal falsch gemacht, bis ich dieses Video gesehen habe. Hier rechnet eine YouTuberin die Aufgabe sauber durch und zeigt genau, wie man die Induktionsannahme richtig einsetzt:
5. Häufige Fehler (und wie man sie ausrottet)
Fehler 1: „Basis + nächster Wert“ statt echter Induktion
Falsch: prüfen, prüfen, fertig. Richtig: prüfen und dann für beliebiges zeigen.
Fehler 2: Induktionsannahme nicht benutzt
Falsch: P „direkt“ beweisen, ohne zu verwenden. Richtig: ist dein Werkzeug. Wenn du es nicht benutzt, machst du keinen Induktionsbeweis.
Fehler 3: Basis ignorieren
Falsch: „Sieht doch offensichtlich aus, sparen wir uns.“ Richtig: Ohne gültigen Startstein bringt dir der schönste Induktionsschritt nichts.
6. Checkliste für Induktionsbeweise
1. Aussage sauber formulieren: Klar definieren, was ist.
2. Induktionsbasis: Setze Startwert (z.B. oder ) ein und rechne ihn durch.
3. Induktionsannahme: Schreibe explizit hin: „Angenommen, gilt für ein beliebiges, aber festes ."
4. Induktionsschritt:
- Formuliere .
- Beginne auf einer Seite von .
- Nutze gezielt die Induktionsannahme.
- Forme um, bis du die andere Seite von hast.
5. Abschluss: „Damit gilt nach dem Prinzip der vollständigen Induktion für alle Startwert."
Wenn einer dieser Teile fehlt oder die Induktionsannahme nicht auftaucht: Beweis wegwerfen.
7. Warum das kein mathematischer Scam ist
Induktion umgeht das „unendlich viele Fälle“-Problem nicht durch Weggucken, sondern durch ein besseres Ziel:
Wir beweisen keine Liste von Einzelaussagen, sondern eine Regel:
Diese Regel garantiert: Wenn der erste Fall stimmt, stimmt zwangsläufig jeder Nachfolger.
Das funktioniert, weil die natürlichen Zahlen so aufgebaut sind:
- Es gibt ein erstes Element ( oder ).
- Zu jeder Zahl gibt es genau einen Nachfolger.
- Jede Startwert entsteht durch endliches Wiederholen des Nachfolger-Schritts.
Genau diese Struktur macht vollständige Induktion nicht nur zulässig, sondern fast unvermeidlich, wenn man sauber über argumentiert.
8. Fazit
- Ich habe am Anfang nicht Induktion gemacht, sondern zwei Beispiele geprüft.
- Der entscheidende Switch war:
- weg von „ich rechne noch ein Beispiel",
- hin zu „ich beweise einen Mechanismus ".
- Die Induktionsannahme ist kein Trick, sondern das Werkzeug.
- Seitdem vergesse ich die Induktionsannahme nicht mehr.
Wenn du denselben Fehler gemacht hast: gut. Jetzt hast du eine Chance, das Konzept wirklich zu verstehen – und nicht nur stumpf ein Schema abzuschreiben.
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Glossar-Einträge
- Vollständige Induktion - Formale Definition
- Beweis - Was macht einen mathematischen Beweis aus?
- Natürliche Zahlen - Die Struktur von ℕ
- Implikation - Logische Schlussfolgerungen
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